Iran, Gaza und eine Politik, die über dem Recht steht
Anis Hamadeh, 04.02.2010
Zur aktuellen Rede Ahmadinedschads schreibt das Flensburger Tageblatt heute: "Irans Staatschef Ahmadinedschad macht im Atomstreit mit dem Westen nicht aus Einsicht Zugeständnisse. Er reagiert allein auf Druck. Bis zu einer echten Entspannung zwischen dem Iran und dem Westen ist der Weg noch weit. Schließlich ist keineswegs ausgemacht, dass ein notorischer Holocaust-Leugner vom Schlage Ahmadinedschads überhaupt für rationale Erwägungen zugänglich ist." Diese Aussage hat der Deutschlandfunk in seiner internationalen Presseschau weiter verbreitet, zusammen mit zwei anderen Meinungen, die ebenfalls den Iran in die Pflicht nehmen. Sie spiegelt die Meinung der deutschen Mainstream-Presse und der Parteien mit Ausnahme der Links-Partei wider. Eine Meinung, die nun bereits seit Jahren die Runde macht und deren Essenz lautet: Der Iran darf auf keinen Fall die Atombombe haben.
Interessant an diesem Fall ist die Tatsache, dass in den westlichen Öffentlichkeiten höchst selten das Ziel eines atomwaffenfreien Nahen Ostens formuliert wird. Israel ist nämlich im Besitz von Atomwaffen und hat den Sperrvertrag - anders als der Iran - nie unterschrieben. Eine ausgewogene und ideologiefreie Berichterstattung würde diesem Umstand Rechnung tragen. Die Fokussierung auf den Iran macht deutlich, dass es hier um hegemoniale Interessen geht - und um ein Feindbild. Dazu passt, dem Feind grundsätzlich die Vernunft abzusprechen, wie im Flensburger Tageblatt geschehen, und ihn mit dem Genozid an den Juden in Zusammenhang zu bringen, eine Anklage, die etwa die jüdische Minderheit im Iran nie geäußert hat.
Vor dem US-Angriff auf den Irak hat man Saddam Hussein die Rolle des Bösen zugewiesen, kurz nach seinem Tod ging sie auf Ahmadinedschad über. Beides geschah nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Kommunismus, der als Feindbild also ausfiel. Seither liegt der Schwerpunkt auf dem "islamistischen Terrorismus" und dem nahöstlichen "Antisemitismus". Verbindet man die Punkte Irak und Iran zu einer Linie, führt diese zu einer weiteren militärischen Auseinandersetzung im Nahen Osten und zu einer neuen Persona non grata, die die Lücke füllt, und so weiter.
Bei der Mainstream-Berichterstattung über "den Feind" fällt immer wieder auf, dass rechtliche Erwägungen fehlen oder stark unterbewertet werden. Das beste Beispiel dafür ist Palästina. Kaum eine Situation ist rechtlich klarer: Die Vertreibungen von 1948 widersprechen jeglichem Recht, die Siedlungen in der Westbank sind ohne Wenn und Aber illegal, die krassen Menschenrechtsverstöße im belagerten Gazastreifen sind ein zum Himmel schreiendes Unrecht, dann sind da noch die öffentlichen Morde ... es gibt kaum einen kriminellen Tatbestand, den die israelische Regierung/Armee ausgelassen hat. Das verbriefte Recht auf Widerstand gegen eine Besatzungsmacht ist selten Thema, ebenso wie die eindeutigen und zahlreichen UNO-Resolutionen zum Thema. Eine Gegenüberstellung der Waffen fehlt ebenfalls. Zum Beispiel haben die USA Israel für jeden der 1400 toten Palästinenser in Gaza zehn Tonnen (!) Waffen geschickt - auf dem deutschen Schiff "Wehr Elbe", angekommen in Aschdod am 22. März 2009, wie die britische Sektion von amnesty international berichtete.
Stattdessen hören wir seit Jahrzehnten Standard-Aussagen über imaginäre "beide Seiten" - Palästina hat ja weder eine Armee noch einen Staat - und immer wieder den Verweis auf Terrorismus und so genannte Sicherheits-Bedürfnisse der Israelis. Es steht außer Frage, dass militärische Angriffe auf israelische Zivilisten ebenfalls schwer wiegende Rechtsbrüche darstellen. Diese stehen allerdings in keinem Verhältnis zu den von Israel begangenen Gräueltaten und sie bleiben nicht aus, wenn einem ganzen Volk über Jahrzehnte seine Grundrechte vorenthalten werden, während das Land der Palästinenser von Jahr zu Jahr kleiner wird. Den Gipfel erreichte Israel mit dem tödlichen Angriff auf Gaza, der eben nicht von Raketenbeschuss provoziert wurde, auch wenn dies nach wie vor behauptet wird, siehe www.anis-online.de/journalismus/essay/23.htm#c.
Immer wieder stößt man auf Indizien dafür, dass die Politik über dem Recht steht. Wenn etwa Frau Merkel Menschenrechtsverletzungen anprangert, dann immer nur die von ausgesuchten Ländern wie China. Oder wenn Deutschland das korrupte afghanische Regime unterstützt und gleichzeitig in Afghanistan das übelste Massaker seit der Nazizeit anrichtet, ohne dass dies zu Änderungen in der deutschen Außenpolitik führt. Somalia wird heute mit Piraterie assoziiert, doch zumeist bleibt ausgeblendet, dass ausländische Fischer den Einheimischen die Lebensgrundlage entziehen. Die Besatzung des Irak, die auf einer großen Lüge basiert (Massenvernichtungswaffen) und noch immer viele Tote nach sich zieht, ist bei uns kaum noch ein Thema. Seit dem Elften September scheint alles möglich, das Feindbild greift. Die vorherrschende und schlecht belegte Verschwörungstheorie besagt, dass "islamistische Terroristen" dafür verantwortlich sind.
Der Fingerzeig auf "die Anderen", kollektiviert und dämonisiert, lenkt vom eigenen Verhalten und dessen Konsequenzen ab und scheint jede unserer Gräueltaten zu rechtfertigen. Nein, der Westen ist nicht an allem Schuld, das soll hier nicht nahe gelegt werden. Aber wir sind schlau genug, um zu wissen, dass unsere arrogante und gewalttätige Außenpolitik der militärischen Überlegenheit ins Verderben führt. Wir bieten Terroristen gute Argumente, auch im Jemen. Dies versäumte der Deutschlandfunk in seinem heutigen Jemen-Feature um kurz vor 19 Uhr zu erwähnen. Er lässt die Interviewpartner diese Argumente andeuten, mehr aber nicht, denn der entsprechende Autor wird dafür bezahlt, über den Terrorismus und al-Qaida zu berichten und nicht über uns, die wir Öl ins Feuer gießen anstatt es zu löschen.
Wie aber sollen wir Bürger darauf reagieren, wenn das Recht systematisch ausgehebelt wird? War es nicht genau dieser Rechtsstaat, der uns die Nazizeit hat überwinden lassen? Haben wir diese Zeit dann überhaupt überwunden? Es ist sehr schwer, darauf eine befriedigende Antwort zu geben, denn wir Bürger tragen die Situation mit und sind mitverantwortlich. Die Relativität des Rechts ist Resultat unserer Werte. Wir wurden 1945 von Staaten befreit, die zum Beispiel in Hiroshima und Nagasaki mehr als 200.000 Zivilisten umgebracht haben und Millionen in den Kolonien und den Gulags. Schon das Töten von Menschen also, das größte Verbrechen überhaupt, ist nach unseren Werten relativ.
Die Antwort muss jeder von uns selbst finden. Es gehört zum Wesen der Macht, den Status Quo um jeden Preis aufrecht zu erhalten und ihn nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. Viele von uns identifizieren sich mit dieser Macht, um der Ohnmacht zu entgehen, und sei es nur scheinbar. Den dazu gehörenden Gruppenzwang bekommen wir bereits in der Schule und im Elternhaus gelehrt. Es ist viel leichter, sich mit einer fassbaren Gruppe zu identifizieren als mit einem einheitlichen Maßstab, der ständig zur Selbstkritik zwingt. Einige Gruppen, wie die taz, die Grünen oder Attac, versuchen die Quadratur des Kreises, indem sie einerseits klare Äußerungen mit einheitlichem Maßstab formulieren und dann wieder systemkonforme Äußerungen, die damit überhaupt nicht vereinbar sind. Damit halten sie die Hoffnung auf Gerechtigkeit aufrecht, während sie sie gleichzeitig demontieren. Eine Lösung ist das nicht. Nur ein Paradigmenwechsel kann die Lösung bringen und es liegt an jedem von uns, diesen näher zu bringen. In unserer dicht vernetzten Welt sind Dialoge viel leichter möglich als früher. Dies ist eine Hoffnung. Solange jedenfalls, wie wir uns darüber im Klaren sind, dass auch unsere eigene Gruppe umso anfälliger für Unrecht wird, je mehr sie mit dem Finger auf andere zeigt und sich selbst vergisst.
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