Israelische Sicherheitskriege
Anis Hamadeh, 16.08.2006
Die historische und berechtigte Wut der jüdischen Pionier-Gesellschaft in Palästina richtete sich nicht auf Europa. Inwiefern ist der Nahostkonflikt eine verschobene Rache an Hitler, fragt Medienkritiker Anis Hamadeh.
Selten in den letzten Jahren hat ein Krieg so schnell begonnen: Einen Tag nach einem Grenzzwischenfall, wie es ihn häufiger in der Gegend gegeben hat - auch von Israel ausgehend - wurde der Flughafen von Beirut zerbombt, gefolgt von einer Verwüstung des Libanon. Die Mainstream-Öffentlichkeit nennt zumeist die Hisbollah als Ursache des Krieges, oder gleich "den Islamismus", und den Grenzvorfall als Anlass. Oder sie spricht gar nicht über die Ursachen, das ist noch häufiger. Betrachtet man allerdings die Entwicklung der Nahostpolitik Israels seit seiner Gründung und speziell seit dem Elften September, so ist eine zunehmende Gewalttätigkeit zu erkennen, von der Einführung öffentlicher Hinrichtungen bis zum Bau der Erstickungsmauer.
Die Beschwörung des "Existenzrechts" Israels und der "Bedrohung des antisemitischen Islamismus" reicht nach wie vor dafür aus, dass aus Kritik an Israel keine Sanktionen werden können. Sanktionen gegen Israel? Undenkbar. Eine Verurteilung Israels findet nicht statt. Man kann die Hisbollah verurteilen, den Iran, die Palästinenser, aber nicht Israel. Man kann im Terrorfall von London von muslimischen Tätern sprechen, im Fall der israelischen Gewalt aber nicht von jüdischen Tätern. In London ist es klar, dass die Muslime scheel angesehen werden. Wenn aber Juden scheel angesehen werden, dann werden mahnend Bilder des Juden emporgehoben. Gerecht ist das alles nicht.
Dass hier ein Tabu herrscht, wird kaum geleugnet. Die Öffentlichkeit nennt es zumeist "besonderes Verhältnis" oder "Verantwortung", wenn sie Israel durch ihre rosa Brille sehend beschreibt. Die Opfer des Genozids werden in diesen Staat hineinprojiziert, von außen und von innen, ein Hafen der Sicherheit für Juden soll er sein. Ist er das wirklich? Wenn eine Pionier-Gesellschaft wie in den 40er-Jahren die der Juden in Palästina tatsächlich Sicherheit gewünscht hätte, hätte der Staat sich in Absprache mit den Nachbarn gegründet. al-Dschaar qabl ad-daar, sagt ein arabisches Sprichwort, den Nachbarn (suche dir aus) vor dem Haus. Auch mit der Vertreibung und Enteignung der 800.000 und später weiteren 600.000 Einheimischen wurde bestimmt keine Sicherheit generiert, sondern es wurden Konflikte programmiert.
Warum ist das geschehen? Inwieweit geht es dabei um den nicht verarbeiteten Konflikt aus Deutschland, dem die Rituale und Symbole nicht reichen, um mit dem Schmerz aus den Gaskammern umgehen zu können? Das Kind, das vom Vater geschlagen wurde, wird später selbst geneigt sein, die eigenen Kinder zu schlagen, wenn es nicht in der Lage ist, den Täter einmal von ganzem Herzen zu verurteilen und seine Tat in ganzer Tragweite zu erkennen. Eine solche Verurteilung deutscher Täter hat es zwar gegeben, aber nicht konsequent und oftmals spät. Die Zusammenarbeit zwischen Nationalsozialismus und Zionismus ist ebenfalls nicht aufgearbeitet worden. Die gewaltige - und berechtigte - Wut der neuen jüdischen Gesellschaft in Palästina hat sich nicht erkennbar auf Europa und die Ursachen des Genozids bezogen. Stattdessen wurde der wehrhafte Jude erfunden, zu spät, vielleicht nachträglich, jedenfalls in einer anderen Umgebung und unter anderen Voraussetzungen.
Es gibt gute Gründe, die These zu vertreten, dass das schwebende und traumatische deutsch-jüdische Verhältnis im Nahostkonflikt seine Manifestation findet. Dabei wird der Gegner, der benötigt wird, um das Trauma aufrecht zu erhalten, selbst geschaffen. Der Frankenstein-Effekt. Hamas und Hisbollah sind gute Beispiele dafür, auch die Attentäter. Es ist eine Binsenweisheit, dass Okkupation und niedriger Lebensstandard zu Radikalisierung führen. Wer das über Jahrzehnte zulässt, der will eine solche Radikalisierung. Dass es sich dabei auch um eine verschobene Rache an Hitler handelt, zeigen zusätzlich die vielen Vergleiche zwischen dem Widerstand der Einheimischen/Nachbarstaaten und den Nazis. Hätten die Juden in Südamerika gesiedelt statt in Palästina, wäre nach Vertreibungen und Enteignungen dort dasselbe passiert wie im arabischen Widerstand. Ohne Antisemitismus scheint Israel keine Existenz zu haben, keine Definition. Das ist ein trauriger Aspekt.
Was nach einer hinreichenden Verarbeitung des jüdisch-deutschen Traumas entstehen wird ist klar: ein Bewusstsein über das gleiche Recht aller Menschen, Juden und Nicht-Juden. Die Öffentlichkeit wird nicht mehr fragen: "Ist das gut für die Juden"? sondern: "Ist das gut für die Menschen"? Sie wird nicht mehr sagen, dass im Nahen Osten andere Maßstäbe gelten als im Westen, denn es wird keine unterschiedlichen Maßstäbe mehr geben. Dass dieser Tag kommt, ist gewiss, denn die Entwicklung des jüdischen Staates ist im Stadium der Selbstzerstörung angekommen. Das Gerede von Sicherheitskriegen, um Juden zu beschützen: eine Lüge, von Anfang an.
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Israeli Security Wars
Anis Hamadeh, August 16, 2006
The historical and justified anger of the Jewish pioneer society in Palestine was not directed to Europe. How far is the Middle East conflict a shifted revenge on Hitler, asks media critic Anis Hamadeh.
Rarely in recent years had a war begun with such rapidity: one day after a border incident of the kind that had regularly occurred before in the region - some of them caused by Israel - the Beirut airport was bombed, followed by a devastation of Lebanon. The mainstream publics in the West mostly refer to Hezbollah as the cause of the war, or even "Islamism", and the incident near the border as the inducement and starting. Or, more common, the causes are not mentioned, at all. Yet when we look at the development of Israel's Middle East policy since its foundation and especially since 9/11, an increasing use of violence can be observed, from the introduction of public executions to the building of the stifling wall.
It still suffices to evoke Israel's "right of existence" and the "threat of anti-Semitic Islamism" to prevent Israel criticism from turning into sanctions. Sanctions against Israel? Unthinkable. A conviction of Israel does not take place. One can convict Hezbollah, Iran, the Palestinians, but not Israel. In the London terror case one can speak of Muslim perpetrators, but in the case of Israeli violence one cannot speak of Jewish perpetrators. In London it is almost normal that Muslims are being sneered at. But when Jews are being sneered at, warning pictures of the Jew are raised. All this is far from justice.
Hardly anybody denies the existence of the taboo. The German public, for example, usually calls it the "special relationship" or "responsibility", when it takes its transfigured view of Israel. The victims of the genocide are projected into this state, both from outside and from within, it is meant to be a harbor of safety for Jews. Is this really what it is? If a pioneer society like in the 1940s the one of the Jews in Palestine had factually wished security, it would have agreed on the circumstances of the foundation with its neighbors. al-Jaar qabl ad-daar, an Arab proverb says,
the neighbor (choose) before the house. Neither was the expulsion and expropriation of 800.000 and later another 600.000 native inhabitants a means to generate security, it programmed conflicts.
Why did this happen? How far is the unresolved German conflict involved the rituals and symbols of which do not suffice to cope with the pain from the gas chambers? The child, which was beaten by the father, will in later times tend to beat the own children in turn, if he or she is not capable of convicting the perpetrator wholeheartedly once and of recognizing the momentousness of the deed. Such a conviction of German perpetrator did take place, but not consequently and often late. Moreover, the cooperations between National Socialism and Zionism have not been publically discussed yet. The tremendous - and justified - anger of the new Jewish society in Palestine did not identifiably refer to Europe and the roots of the genocide. Instead, the valiant Jew was invented, too late, maybe in retroaction, at any rate in a different environment and under different suppositions.
There are good reasons to hold the thesis that the pending and traumatic German Jewish relationship finds its manifestation in the Middle East conflict. The opponent, which is necessary for keeping up the trauma, is created in a Frankenstein way. Hamas and Hezbollah are good examples for that, the suicide bombers, too. It is commonplace knowledge that occupation and low standards of living lead to radicalization. Who allows this to happen over decades will want such a radicalization. The many comparisons between the resistance of the native population/neighbor countries and the Nazis additionally show that a shifted revenge on Hitler is a factor in this situation. Had the Jews settled in South America instead of Palestine, after expulsions and dispossessions the same things would have happened as in the Arab resistance. Without anti-Semitism, Israel seems to have no existence, no definition. This is a sad aspect.
It is clear what will happen after a sufficient digestion of the Jewish German trauma: there will be an awareness of the same right for all people, Jews and non-Jews. The public will no longer ask: "Is this good for the Jews?" but: "Is this good for the people?" It will no longer say that there are different measures in the Middle East than in the West, because there will no longer be different measures. That this day will come is certain, for the development of the Jewish state arrived in the phase of self-destruction. The whole talk about security wars to protect Jews: a lie, right from the beginning. |